„Das Streben nach dem Angenehmen ist unersättlich und verdrängt die Vernunft.
Tugendhaftes Verhalten dagegen spendet keine Lust, allenfalls das Ziel.“ (Aristoteles, Nikom. Ethik.)
Wozu soll man sich überhaupt um Tugenden bemühen? In einer Welt, in der Geiz geil ist und man sich schnell dem Vorwurf der Dummheit aussetzt, wenn man unter Leben mehr als Profit und Vorteil versteht?
Kinder sollen sich beherrschen, weniger Süßes essen, nicht so viel Fern- sehen, den Computer, das Handy und die Spielekonsole auch mal aus lassen und dafür draußen spielen.
Was von ihnen verlangt wird, klingt fast übermenschlich. Jeder, der regelmäßig Bahn fährt, kennt sie, die Mütter mit dem starren Blick aufs Handy, ungeachtet der Regungen, die ihr Nachwuchs zeigt. Wenn wir Erwachsenen Vorbilder sind, dann werden unsere Kinder uns wenn wir alt sind, den Spiegel vors Gesicht halten.
Wenn man in diesen mit Freude blicken möchte, dann lohnt sich die Beschäftigung mit Tugenden.
Aristoteles traf die Unterscheidung in das, was uns treibt, und das, was wir selbst entscheiden. Für bewusste Entscheidungen bedarf es einer Analyse der eigenen Antriebe, denen die Vernunft eine Haltung gegenüber stellt. Diese Haltung, die eingeübt werden kann, heißt Tugend.
Für Aristoteles stand außer Frage, dass eine Gemeinschaft ohne die Tugenden ihrer Mitglieder unter das Niveau von Tieren verkommt. Gerade die menschliche Freiheit gegenüber den Instinkten erzwingt eine Wahl.
Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit, Besonnenheit, Großzügigkeit sind die wichtigsten antiken Tugenden, das Christentum fügt noch Glaube, Liebe und Hoffnung hinzu.
Tugenden machen menschliches Verhalten zu verantwortungsvollem Handeln.
Aus dem einfachen Grund, dass niemand um die Tatsache seines Bewusstseins herum kommt. Und da dieses in der Bewertung von Umständen zu Extremen neigt, sofern man es den Gefühlen preis gibt, ist es für die Menschheit existentiell notwendig, Gefühlen mit Vernunft zu begegnen.
Auszüge aus der Nikomachischen Ethik:
Die Tapferkeit
Sie ist die Mitte zwischen Furcht und Zuversicht-
Doch gilt es zu unterscheiden, wann Furcht gerechtfertigt ist und wann nicht. Zu fürchten ist nur, was man selbst verursacht hat. Auf das Schicksal hat man keinen Einfluss. Welchem Schrecken tritt der Tapfere entgegen? Dem Tod, nein, denn in ihm heben sich die Gegensätze von Gut und Schlecht auf.
Das Furchterregende ist nicht für alle Menschen dasselbe. Furchterregendes hat quantitative und qualitative Beschaffenheit. Der Tapfere erträgt Übel um des Guten willen. (völlig furchtlos waren anscheinend die Kelten). Wer sich dagegen übermäßig fürchtet, ist feige. Der Feige ist einer, der zu wenig hofft, weil er alles fürchtet. Der Tapfere kennt die Gefahr, handelt aufgrund seiner Entscheidung besonnen und schnell zugleich.
Der Tapfere harrt aus, weil es gut ist, der Feige flieht, auch in den Tod. Der Tapfere handelt aus Vernunft, um eines Zieles willen, der Tollkühne wie der Feige sind Getriebene. Auch die Zuversichtlichen sind nicht tapfer, sie sind zuversichtlich, weil sie auf Erfahrungswerte zählen.
Wage zu denken, und tugendhaft zu handeln, dann erfährst du Freiheit.
So könnte man kurz den Inhalt der antiken Ethik beschreiben.
Lange war die Vernunft in Misskredit gekommen, insbesondere bei Psychologen, die schwere Schäden bei Gefühlsunterdrückung befürchteten.
Dabei besteht ein gravierender Unterschied darin, ob ich Gefühle unterdrücke, wahrnehme oder mich ihnen ungeprüft überlassen.
Heute ist es nach der wenig fruchtbaren emotionalen Katharsis der Nachkriegsgeneration en vogue, sich in Achtsamkeit zu üben.
Gefühle lässt man dabei in der Meditation an sich vorbei ziehen, weil in der Dualität der sinnlichen Erfahrung die Quelle für Leid vermutet wird.
Ich finde Achtsamkeit ein gutes Mittel, um sich von Gedanken- und Gefühlsaufruhr zu befreien.
Ob allerdings „Nichthandeln“ wirklich der menschlichen Natur entspricht, sei dahin gestellt.
Ich lerne aus Fehlern und Fehler mache ich, wenn ich handle. Leid zu vermeiden, kann – muss aber kein Lebensziel sein.
Handle ich dagegen verantwortungsvoll und bemühe mich um tugendhaftes Handeln, dann kann ich auch trotz Leid und Fehlern jeden Morgen in den Spiegel schauen und einen Menschen darin sehen.