Freiheit- ein Mythos?

 

Das Wesen des Mythos besteht darin, sich den logisch- kausalen Gesetzmäßigkeiten zu entziehen. Dafür befriedigt er ein urmenschliches Bedürfnis: Das nach Sinn. Und wo kein Sinn am Horizont auftaucht, malt ihn der Mythos dort hin. Götter verteilten Reichtum und Übel, die Sünde machte krank und Freiheit winkt über den Wolken, über Wasser oder wo auch immer- aber anscheinend nicht dort, wo wir eh schon sind. Ist die Gegenwart eine derart unbequeme Fessel, dass wir ihr Mythen bildend entkommen müssen?

Nur Ketten, die wir nicht spüren, sind keine Ketten- doch, was wir spüren, ist zu einem hohen Grad Ausdruck unserer Deutungsgebung, Phantasie, Mythenbildung.

Statt angesichts  des gegenwärtigen Loses Mythen zu bilden, die uns davon erlösen sollen, könnte man auch einfach einen „Gegenwartsmythos“ erfinden, in dem, was ist, gut ist- gut und sinnvoll.

Als ich verheiratet war, war ich frei von den Lasten des Broterwerbs, seit ich allein lebe, bin ich frei vom Hemdenbügeln.

Aber wer zwingt mich, mich von dem, was ist, abhängig zu machen, oder von dem, was nicht ist?

Niemand- aber die Gegenwart bedeutet stete Herausforderung, das Sein sinnlich, rhythmisch, freudvoll zu gestalten. Sinne geben Sinn.

Der Duft des Spülmittels, Berge von Schaum, unter dem die Teller versinken- mein Enkelkind weist mich regelmäßig in die Freuden des Geschirrspülens eins.

Oder Farben: Welche Farben in meiner Wohnung  tun mir gut und wie? Seit ich weiß, dass ich Gold liebe, platziere, arrangiere und drapiere ich Gold um Gold und Grün um Gold und Gold an die Wand usw. Goldene Dekore und glitzernde Verführungen springen mich in der Stadt an und sind billiger in der Anschaffung als neue Möbel- aber vor allem: solange ich mich mit Farben beschäftige, stellt sich gar nicht erst die Frage nach Sinn- und auch nicht die nach Freiheit.

Ich bin ja frei, sinnlich einzutauchen, mich rhythmisch zu bewegen, liebevoll zu agieren.

Ich brauch keinen Mythos, vielleicht weil ich selbst dieser Mythos bin.